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China – Höhepunkte authentisch erleben

Reisebericht: 05.10. – 19.10.2025

Eine wunderbare Reise und doch dauerhaft bewaffnet mit Schirm, Cape und Silikonschuhen……

Diana Mendel

Ein Reisebericht von
Diana Mendel


Wir reisen nach China

Nach China zu reisen ist kein Vorhaben, das man beiläufig trifft – kein Gedanke, den man zwischen Alltag und Einkaufsliste hervorzieht. Eine solche Entscheidung reift. Sie entsteht aus Neugier, aus dem Wunsch, ein Land zu erleben, das seit Jahrhunderten beschrieben, bewundert, kritisiert, verklärt und missverstanden wird. China begegnet uns selten neutral; kaum jemand reist ohne Bilder im Kopf. Viele tragen feste Vorstellungen mit sich, manchmal kritisch, oft vorsichtig, gelegentlich skeptisch.
Und doch ist es etwas Besonderes, wenn Menschen sagen:
„Ich möchte es selbst sehen.“
Vielleicht ist genau das die schönste Haltung, mit der man sich diesem Land nähern kann: nicht als klassischer Urlaub, nicht als leichter Tapetenwechsel, sondern als bewusste Entscheidung, ein eigenes Bild zu suchen – jenseits von Klischees, jenseits der ständigen Stimmen anderer.
So begann unsere Reise. Eine Gruppe von Menschen, die bereit war, sich auf ein Land einzulassen, das größer ist als alle Erzählungen darüber. Die bereit war, Fragen mitzunehmen, statt Antworten zu erwarten. Und mit dieser Mischung aus Respekt, Offenheit und leiser Aufregung machten wir uns auf den Weg nach China.

Vielleicht verwunderte es uns später gar nicht mehr, dass die ersten Herausforderungen dieser Reise nicht in China, sondern in Deutschland begannen. Man könnte meinen, dass wir uns längst daran gewöhnt hätten, doch jedes Mal stellt sich dieselbe Frage: Wie kann ein so wohlhabendes, so gut organisiertes Land so große Mühe damit haben, Menschen einfach zuverlässig von A nach B zu bringen?
Denn schon der Start dieser Reise war geprägt von jenen logistischen Hürden, über die wir in Deutschland seit Jahren diskutieren, ohne ihnen wirklich näher zu kommen: verspätete Züge, ungewisse Anschlussverbindungen, Zustände auf Bahnhöfen, die einfach frustrieren, kaum Reiselust entfachen. Und so, wie die Reise begann, sollte sie enden – kein Zug, kein Flug, auf den wir uns vorbehaltlos verlassen konnten. Es war fast sinnbildlich.

Umso deutlicher wurde der Kontrast, der uns in China erwartete. Ich darf es vorwegnehmen, weil es zu den eindrücklichsten Beobachtungen dieser Reise gehört: Wir waren in einem Land unterwegs, das wir in relativ kurzer Zeit durch verschiedene Klimazonen, Landschaften und Regionen errreisten – ein Land mit über 1,4 Milliarden Einwohnern. Und dennoch mussten wir nicht ein einziges Mal drängeln, hetzen, um Anschluss fürchten oder Unklarheiten ertragen. Kein Schnellzug kam verspätet, kein Bahnhof war verschmutzt, kein Flughafen im Chaos. Stattdessen begegnete uns ein nahezu lautloses Ineinandergreifen von Abläufen, ein freundlicher Service und eine Gelassenheit, die uns bisweilen sprachlos machte.

Es gibt Reisen, die uns Landschaften zeigen. Und es gibt Reisen, die uns den Spiegel vorhalten.
Diese Reise tat beides.

Peking

Und so erreichten wir am zweiten Tag unserer Reise Peking – Rückenwind verkürzt manchmal Distanzen, war da lediglich noch die Tatsache, dass eine Einreise nach China seit diesem Jahr unter neuen Bedingungen stattfindet. Die visafreie Einreise ist noch neu und entsprechend waren die Abläufe nicht durchgängig eingespielt für uns. Nach einem Nachtflug, in dem Schlaf nur ein begrenzter Begleiter war, verlangte dieser Teil der Anreise also ein waches Durchlaufen der neuen Einreiseprozesse. Doch wir absolvierten alles ohne nennenswerte Verzögerungen und in dem Moment, in dem sich die Türen in den öffentlichen Bereich des Flughafens öffneten, war klar: Wir waren angekommen.
Dort wartete bereits Lin, unsere chinesische Reiseleitung für die kompletten Reisetage. Eine kurze Begrüßung, viele zufriedene Blicke und unsere Tour konnte beginnen.
Mit diesem Gefühl traten wir also hinaus in die Stadt, in eine überraschend milde, angenehme, sogar sonnige Luft. Unser erstes Ziel: der Sommerpalast – jenes weitläufige Refugium, das einst der kaiserlichen Familie als Rückzugsort diente. Schon auf der Fahrt dorthin wurde deutlich, dass China sich in einer besonderen Zeit befand: Es war die Woche des Nationalfeiertags, beginnend am 1. Oktober, eine landesweite Ferienwoche, in der Millionen Chinesen reisen – etwas, das in dieser Breite noch vor wenigen Jahrzehnten für die Bevölkerung undenkbar gewesen wäre.
Der Sommerpalast war entsprechend gut besucht. Doch statt uns abzuschrecken, wurde dies zu einer ersten faszinierenden Beobachtung: Menschen, die ihr Land feiern, die sich fein machen, um es zu erleben. Viele trugen traditionelle chinesische Gewänder, reich an Farben, Details, Stoffstrukturen. Wir machten unzählige Fotos – vielleicht schon mehr, als man einem ersten Reisetag vernünftigerweise zugestehen sollte. Aber Begeisterung folgt selten Regeln.
Rote Fahnen zum Nationalfeiertag im Wind, traditionsreiche Gewänder, Menschen, die lachten und posierten. Ein Wechselbad zwischen kaiserlicher Vergangenheit und einem kommunistischen Staat, der sich selbst feiert. Und mitten darin wir, mit der wachsenden Gewissheit:
Wir sind angekommen in China.
Doch so eindrucksvoll der Tag gewesen war – wir waren inzwischen fast zwei Tage unterwegs, mit nur wenig Schlaf im Flugzeug, vielen Stunden auf den Beinen. Entsprechend dankbar waren wir, als uns am frühen Abend unser Bus wieder einsammelte und Lin mit uns zu einem Restaurant fuhr, in dem wir erstmals an einem runden Drehtisch gemeinsam essen durften. Eine Form des Miteinanders, die uns in den kommenden Tagen noch viele kleine Anekdoten bescheren sollte. Für heute aber genügte sie, um satt, müde und zufrieden zu sein.

Kurz darauf checkten wir im Hotel ein – erschöpft, aber glücklich, und bereit für das, was nun vor uns lag.

Pekings Macht– und Kulturzentrum und eine Akrobatik Show

Der dritte Tag führte uns in das politische und symbolische Zentrum Pekings: den Tian’anmen-Platz. Da die Nationalfeiertagswoche noch andauerte, kamen Menschen aus allen Teilen des Landes hier zusammen, um sich vor der überdimensionalen Nationaltags-Blumenschale fotografieren zu lassen. Familien, oft mit einem oder zwei Kindern, posierten vor roten Fahnen, manche in traditioneller Kleidung, andere mit sichtbarem Stolz im roten Pionierhalstuch. Wer in der DDR sozialisiert wurde, konnte in diesen Bildern nicht nur Folklore erkennen, sondern auch Erinnerungen spüren – an ein anderes System, andere Farben, andere Botschaften.
Ringsum standen die Gebäude, die diesem Platz seine Schwere und Bedeutung verleihen: die Große Halle des Volkes, das Nationalmuseum, das Denkmal für die Helden des Volkes und im Norden das Tor mit dem weltbekannten Porträt Mao Zedongs.
Und dann gab es einen Moment, der irritierte – leise, aber nachwirkend. Inmitten der Fotografierenden sahen wir ein überlebensgroßes Abbild Chiang Kai-sheks, dessen Präsenz im öffentlichen Raum lange undenkbar erschien. Nicht allen war dieser Name geläufig; vielen blieb das Bild eine unbekannte Figur. Für jene jedoch, die die Geschichte der Republik China und die politischen Spannungsfelder um Taiwan mitdenken, wirkte diese Wahrnehmung ungewöhnlich. Vielleicht temporär, vielleicht Teil einer Ausstellung, vielleicht ein politisches Signal. Sicher war nur: Es war ein Bild, das Fragen stellte.
Durch das Tor des Himmlischen Friedens mit dem berühmten Foto Maos betraten wir die Verbotene Stadt, den ehemaligen Kaiserpalast – ein Areal, das nicht einfach besichtigt wird, sondern durchschritten. Halle um Halle, Platz um Platz, Höfe, Tore, Achsen. Die Dimensionen sind so groß, dass sich selbst große Menschenströme darin verlieren, und doch bleibt stets die Ahnung, dass dieser Ort nicht für die vielen, sondern für die wenigen gebaut wurde.
Nach diesem dichten Eindruck holte uns unser Bus ab und brachte uns zum Himmelstempel. Dort erwartete uns ein Spätsommernachmittag, warm, klar, voller Bewegung. Wir aßen Himmelstempel-Eis, fotografierten die Tempelanlagen im milden Sonnenlicht und beobachteten die Menschen beim Flanieren, Fotografieren, Geniessen und Erzählen. Der Himmelstempel ist weniger die Macht, sondern das Bitte-und-Danke einer ganzen Zivilisation.
Am frühen Abend brachte uns Lin zu einer Akrobatikshow – einer Darbietung, die uns staunen ließ über Balance, Präzision und körperliche Virtuosität. Manche Szenen wirkten skurril, andere atemberaubend, einige brachten uns zum Lachen, besonders die Gesangsmomente, die bereits ein Vorgeschmack auf die ungewöhnliche Klangwelt der Chinesischen Oper waren.
Müde, beeindruckt und mit einem Kopf voller Geschichte, Rituale, Machtarchitektur und Menschenbilder kehrten wir schließlich zum Hotel zurück – ein Tag, tief nachhallte.

Große Mauer , eine Fussmassage und die Peking– Ente

Der vierte Tag unserer Reise begann mit einem Blick aus den Fenstern des Dongfang Hotels, der keinen Zweifel ließ: Dieser Tag würde uns fordern. Regen hing hartnäckig über Peking, grau und gleichmäßig, und schon vor dem Frühstück war klar, dass es kein Entkommen gab. Unser Ziel war die Große Mauer. Die Steine des Mauerwegs waren aufgrund der Nässe so glatt, dass jeder Schritt Aufmerksamkeit verlangte – blankgelaufen wie Glas. Zwei Wege boten sich an: links eine flachere Passage durch das Tal, rechts ein nahezu senkrechter Abschnitt über unregelmäßige Stufen, die von flach bis knöchel-, teilweise kniehoch reichten. Eine sicherlich und auch tatsächlich historische Meisterleistung, aber in diesem Zustand eine echte Herausforderung für uns. Und doch: Viele von uns liefen ein gutes Stück, manche ein paar Etappen mehr, alle mit Respekt vor dem Bauwerk und natürlich dem Wetter. Fotos wurden trotzdem gemacht, auch wenn Regen und Wind diese Momente nicht unbedingt erleichterten. Vielleicht war es gerade dieses Wetter, das uns die Mauer ein wenig unmittelbarer erleben ließ – nicht nur als Sehenswürdigkeit, sondern als Weg.
Vom Mauerabschnitt fuhren wir wieder gen Peking zum Olympiapark. Wegen des anhaltenden Regens war ein Rundgang kaum möglich, und so entschied sich der Großteil der Gruppe, wie auch viele chinesische Besucher, für eine kleine offene Bimmelbahn, um das Gelände wenigstens überblicken zu können. Der Wind und der Regen kamen dabei teils von allen Seiten in die Wagen, und wir waren letztlich vor allem froh, wieder in den Bus zu gelangen und langsam aufzuwärmen, um den restlichen Tag fortsetzen zu können.
Umso angenehmer war anschließend der Besuch im Zentrum für Traditionelle Chinesische Medizin. Denn kaum hatten wir Platz genommen, öffnete sich die Tür und das gefühlt ganze chinesische Nationalsportteam kam in ihren Trainingsanzügen zu uns herein, wortlos, präzise, mit blauen Plastikschalen in den Händen, die sie in einer einzigen, fast einstudierten Bewegung vor unseren Füßen abstellten. Wir zogen unsere nassen Schuhe und Strümpfe aus und tauchten unsere Füße in das warme Wasser. Es war eine Wohltat – ganz zu schweigen von der anschließenden Fußmassage. Einige nutzten im Anschluss die Möglichkeit zu kurzen Diagnosegesprächen oder sahen sich Kräuteressenzen, Salben oder Tinkturen an, um sich später zu Hause näher mit den Möglichkeiten der traditionellen chinesischen Medizin zu befassen.
Zum Abschluss des Tages stand ein Programmpunkt auf dem Plan, der in der Reisebeschreibung als besonderer kulinarischer Höhepunkt angekündigt worden war: das traditionelle Pekingenten-Essen. Die Abläufe im Restaurant wirkten jedoch überraschend zügig, fast so, als solle dieser Programmpunkt möglichst rasch erfüllt werden. Noch bevor wir nach diesem langen und regenreichen Tag Gelegenheit hatten, richtig anzukommen, stand die Ente bereits serviert vor uns. Vieles geschah neben uns, weniger mit uns, und so blieb uns vor allem die Beobachtung dessen, wie eine Pekingente präsentiert wird, statt das erwartete gemeinsame Genusserlebnis. Das Prinzip dieser berühmten Spezialität ist uns an diesem Abend zwar deutlich geworden, doch der Eindruck, der blieb, war ein anderer – und er hatte weniger mit dem Geschmack zu tun als mit der Art, wie dieser Programmpunkt verlaufen ist.
Umso schöner war es, dass das Dongfang Hotel einen angenehmen Restaurant- und Barbereich bot. So fanden viele von uns nach diesen drei intensiven Tagen in Peking einen warmen, guten Ausklang des Abends, bei einem Getränk und einfach netten Gesprächen in der Gruppe. Einige entschieden sich noch spontan für einen Besuch der Peking-Oper, während drei besonders Unerschrockene dem starken Regen trotzten und sich auf einen späten, sehr nassen Gang durch die Altstadt machten. So hatte jeder zum Abschluss dieser ersten Reisestation in China noch einmal sein ganz eigenes gutes, zweites Ende dieses Abends gefunden.

Von Beijing nach Lyoyang

Wir waren längst in einem Land unterwegs, das man nicht nur bereist, sondern mit jedem Kilometer neu begreift. Ein Land, das nicht jeden Tag erfüllen muss, was man erwartet – und das gerade dadurch Erwartungen immer wieder übersteigt. Und so liefen wir an diesem grauen Morgen über die Vorplätze des Pekinger Nordbahnhofs, durch Regen, der längst nicht mehr in Pfützen stand, sondern in spiegelnden Wasserflächen. Koffer mussten um die Seen geführt werden, manchmal fast getragen, bis sich die Türen des Bahnhofs rettend öffneten und eine andere Ordnung begann.
Wenn dies nur ein Bahnhof war, dann war er doch mehr als das: weit, sauber, durchstrukturiert, eine Architektur, die Geschwindigkeit nicht behauptet, sondern ermöglicht. Selbst die Sicherheitskontrolle – die eine Haarsprayflasche pflichtbewusst aus dem Verkehr zog – wirkte wie ein Baustein eines Systems, das funktionierte, ohne sich erklären zu müssen. Kein Drängeln. Keine erhobenen Stimmen. Nur Bewegung, die sich selbst verstand.
Und dann standen wir am Bahnsteig, und der erste Hochgeschwindigkeitszug fuhr ein. Weiß, ruhig, selbstverständlich. Wir stiegen ein, verstauten unser Gepäck mühelos, und kaum hatten wir die Rückenlehnen berührt, glitten wir schon los – 260, 270, vielleicht 280, dann 350 Stundenkilometer, ohne Schienenstoß, ohne Erschütterung. Vor dem Fenster zogen im Grau des Wetters Siedlungslandschaften vorbei: Hochhausketten, Bauflächen, Neubaugebiete, als entstünden Städte hier nicht durch Jahrzehnte, sondern durch Entscheidungen.
In Zhengzhou wartete der Bus, und wir fuhren weiter nach Luoyang, zum Shaolin-Kloster. Der Name trug weit, aber der Regen trug weiter. Viele von uns waren vom Vortag noch erschöpft, einige bereits erkältet, und der Dauerregen tat sein Übriges. Wir sahen eine sehr eindrucksvolle Kung-Fu-Vorführung, präzise und kraftvoll, und gingen dann, so gut es möglich war, über das Gelände. Die Kälte kroch in Hände und Füße, und so entschieden wir uns, die Wege abzukürzen und uns mit einem kleinen Mobilfahrzeug zurück zum Bus bringen zu lassen.
Was folgte, war ein Abend, der uns für vieles entschädigte. Lin hatte ein Restaurant gewählt, das die Pekingente des Vorabends mühelos wieder gutmachte. Wir saßen in zwei einladenden Separees, an wunderbar gedeckten Drehtischen, mit einer Küche voller Aromen, die uns nicht nur schmeckte, sondern gut tat. Gekühlte und auch wunderbar heisse Getränke, ein freundlicher Service, Wärme im Raum und am Tisch. Es war ein Abendessen, das man nicht nur zu sich nimmt, sondern gern annimmt.
Danach fuhren wir in unser Hotel in Luoyang – modern, frisch, warm. Und so konnten wir nach einem weiteren kalten, aber eindrucksvollen Reisetag ankommen, uns sehr gut erholen.

Longmen Grotten und Xi‘an

Der Regen blieb unser Begleiter. Grau, kühl, zeitweise nur Niesel, dann wieder dichter, aber ohne wirkliche Pause. Nach dem Frühstück fuhren wir zu den Longmen-Grotten, einem der bedeutendsten buddhistischen Felsskulpturenensembles Chinas. Die Anlage erstreckt sich beidseitig entlang des Yi-Flusses, und auf unserem Weg konnten wir zahllose in den Fels geschlagene Nischen, Grotten und Buddhafiguren sehen – manche kaum handgroß, manche mehrere Meter hoch. Die größte Figur, der sitzende Vairocana-Buddha, gilt als eine der bedeutendsten Arbeiten der Tang-Zeit. Auch wenn das Wetter uns einiges abverlangte, war der Ort beeindruckend: historisch, handwerklich gewaltig und bis heute auch von religiöser Bedeutung.
Nach dem Rundgang fuhren wir zum Bahnhof und bestiegen den Hochgeschwindigkeitszug nach Xi’an. Wieder fiel auf, wie ruhig, organisiert und sauber das Reisen mit der Bahn in China ist. In Xi’an erwartete uns bereits der Bus, der uns über einen schnellen Besuch vor Toreschluss ins Stadtmuseum führte und dann direkt zum Abendessen brachte. Erneut saßen wir an runden Drehtischen in bunt gemischter Runde. Die Wärme des Restaurants, die dampfenden Speisen und der freundliche Service taten nach einem weiteren nassen, kalten Tag einfach gut.
Trotz wachsender Erschöpfung entschieden wir uns anschließend für eine Lichterfahrt durch Xi’an – und es war die richtige Entscheidung. Die Stadt zeigte sich als moderne, vibrierende Metropole, farbintensiv beleuchtet, ohne Scheu vor großen Bildern. Wir liefen über Promenaden und Plätze, an Springbrunnen vorbei, die zur allgemeinen Belustigung auf Zuruf ihre Wasserstöße veränderten. Einen Abschnitt der abendlichen Wege bildete das bekannte Muslimische Viertel, eine lange, von Restaurants, Garküchen und Imbissständen gesäumte Straße, voller Düfte, Stimmen und Bewegung. Für uns, die wir gerade gegessen hatten, blieb es bei Eindrücken, aber die Vielzahl der Speisen und die dichte Atmosphäre machten verständlich, warum dieser Stadtteil zu den bekanntesten kulinarischen Adressen Chinas zählt.
So endete unser Tag in Xi’an nicht still, sondern lebendig, laut und farbstark – ein Kontrast zum grauen, nassen Morgen und eine Erinnerung daran, dass Reisen nicht nur erschöpft, sondern manchmal im letzten Moment des Tages bis in den späten Abend noch einmal unerwartet begeistern kann.

Terrakotta Armee und Teigtaschen

Nach dem Frühstück fuhren wir zur Terrakotta-Armee – einem jener Orte, über die man glaubt, sie längst zu kennen, und dennoch stellt sich bei der tatsächlichen Begegnung ein völlig eigener Eindruck ein. Das Areal mit seinen verschiedenen Hallen vermittelt schnell, warum dieser Fund zu den bedeutendsten archäologischen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts gehört. Reihenweise Krieger, Pferde, Wagen und Fragmente, ausgestellt an jenem Ort, an dem sie im Jahr 1974 zufällig entdeckt wurden.
Wir machten genau jene Fotos, die man unzählige Male im Fernsehen oder in Büchern sieht – und das eigentlich Erstaunliche war, dass die Realität diesen Bildern nicht widersprach. Sie wirkte nicht kleiner, nicht verblichener, nicht weniger eindrucksvoll. Im Gegenteil: Je näher man die Figuren betrachtet, desto mehr tritt hervor, was man aus der Ferne leicht übersieht – die Individualität der Gesichter, die Details an Rüstungen, Frisuren und Körperhaltungen. Man versteht binnen Minuten, warum hier noch immer geforscht wird und warum große Teile des historischen Komplexes bis heute unberührt geblieben sind. Zu groß ist der Respekt vor dem, was sich möglicherweise noch im Boden befindet: Grabkammern, Landschaftsdarstellungen, von Quecksilberflüssen durchzogene Strukturen, die laut Überlieferungen einst eine eigene unterirdische Welt bilden sollten. Was sichtbar ist, beeindruckt. Was verborgen bleibt, fasziniert nicht weniger.
Allerdings wurde dieser eindrucksvolle Vormittag für uns kurzfristig auch zu einer der klassischen Herausforderungen einer Gruppenreise: das plötzliche Verschwinden dreier Gäste. Es ist ein Moment, in dem Reiseleitende gedanklich sämtliche Varianten durchgehen – von „Sie stehen sicher nur zwei Hallen weiter“ bis zu „Ich fahre heute Abend wohl mit weniger Leuten ab, als ich heute Morgen gestartet bin.“ Lin und ich verließen das Gelände schließlich nach langem Suchen und Warten bei selbstverständlich dauerhaftem Starkregen mit 17 Gästen, während wir für die übrigen drei nur hoffen konnten, dass sie sich im Laufe des Tages wieder einfinden würden.
Die Stimmung hellte sich spätestens beim nächsten Programmpunkt auf: einem Restaurantbesuch, bei dem wir chinesische Teigtaschen selbst herstellen durften. Es wurde gefaltet, gedrückt, gezwirbelt, gelacht – und sagen wir so: Nicht jede Teigtasche war ein Meisterwerk der Symmetrie. Manche blieben wohl besser in der Küche, wo sie unauffällig gegen professionell gefertigte Exemplare ersetzt wurden. Geschmeckt hat es dennoch ausgezeichnet, dazu ein kühles Getränk, freundliche Gastgeber und eine angenehme Pause im warmen Gastraum nach einem weiteren kühlen Tag in Xi’an.
Die gute Nachricht aber wartete am Abend im Hotel: Unsere drei vermissten Gäste waren wieder da – zufrieden, trocken und guter Dinge. Ob sie sich verlaufen hatten, ob sie eigene Wege gehen wollten oder ob die Terrakotta-Armee sie länger festgehalten hatte als erwartet, blieb offen. Wichtig war nur: Die Gruppe war wieder vollzählig. Und so endete dieser Tag mit einem Gefühl ehrlicher Erleichterung und einem Schmunzeln, das in Reiseberichten selten offiziell erwähnt wird, aber scheinbar zu jeder guten Reise dazugehört.

Von Xi‘an nach Guilin

Der achte Tag unserer Reise begann selbstverständlich erneut mit Regen, ganz so, als wäre dieses Wetter ein festgebuchter Bestandteil für diese Reise gewesen. Der Himmel spannte sich in ein dichtes graues Tuch über die Stadt, als hätte er alle Farben der Stadt des gestrigen Abends sorgfältig weggeräumt. Wir stellten keine Fragen mehr, erwarteten keine Sonne, wir arrangierten uns – leicht und ohne Widerstand. Es war eben unser China-Wetter geworden. Zu unserem täglichen Ritual gehörte längst eine inzwischen routinierte Regenausrüstung mit Kopfhörern. Seit Tagen war diese Ausrüstung im Einsatz, und einzig so war es möglich, Lins Ausführungen zu folgen – trotz zwingend einzuhaltender Regenschirm-Abstände, trotz knisternder Kapuzen und des unaufhörlichen Tropfens um uns herum.
So erliefen wir die Wildgans-Pagoden-Anlagen und folgten den Erklärungen von Lin, während wir hier und da kleine, nette Kleinigkeiten als Mitbringsel für zu Hause erwerben konnten. Es war ein langsames, beinahe stilles Erkunden im Rhythmus der Regentropfen, unter zuweilen tief hängenden Schirmen, die unsere Bewegungen bestimmten.
Im Anschluss erreichten wir die Stadtmauer von Xi’an, die sich uns nicht farbenfroh und lebendig zeigte, sondern in einem einzigen, würdevollen Ton: Grau. Ein Grau, das nicht trostlos wirkte, sondern der Stadt eine unerwartete Ruhe verlieh. Gerade so sahen wir Xi’an einmal in einer ganz anderen Version. In einer anderen als am Vorabend. Wir nahmen dankbar eine Stärkung zu uns – unser spätes Mittagessen, das zugleich eine gute Vorbereitung auf den Rest des Tages war, denn dieser bewegte sich dann nur noch in Richtung Guilin. Wir fuhren zum Flughafen und nach einigen, teilweise doch sehr aufwendigen Kontrollen für einen Inlandsflug, sind wir selbstverständlich pünktlich mit unserem Flugzeug Richtung Guilin gestartet. Dort angekommen, bezogen wir am späten Abend nur noch unsere Zimmer als Überbrückung für die nächste Station unserer Reise.

Fahrt auf dem Li Fluss, der Mondberg und ein sehr netter ländlicher Aufenthalt

Wir waren am Vorabend im Dunkeln in Guilin angekommen. Viel ließ sich vom Hotel und seiner Umgebung da noch nicht erkennen, doch am Morgen zeigte sich seine wirklich entzückende Lage, ruhig eingebettet am Wasser. Nach erholsamem Schlaf und einem sehr guten Frühstück starteten wir gestärkt zur Schiffsfahrt auf dem Li-Fluss.
Es regnete nicht – nur ein grauer Himmel begleitete uns auf dem Weg zum Schiffsanleger, was sich für uns bereits wie ein kleiner Luxus anfühlte. Durch die Busfenster betrachteten wir das Draußen, das uns inzwischen im Strassenverlauf vertraut war: meist zwei Fahrspuren für klassische motorisierte Fahrzeuge, daneben Roller und Fahrräder auf breiten Nebenfahrspuren, häufig beladen und in herrlich überraschenden Familienkonstellationen. Da sah man jemanden mit zwei Körben voll Gemüse, dort ein Vater mit einem Kind vorne stehend und einem weiteren zwischen ihm und der Mutter auf dem Rücksitz. Andere balancierten Einkaufstaschen oder sonnen- und Regenschutzkonstruktionen, die aussahen wie kleine mobile Wohnzimmer. Und all das funktionierte – reibungslos, fast mühelos, jede Bewegung fügte sich in die nächste, als wäre dieser Verkehr ein still eingespieltes, kollektives Handwerk. Und doch zeigten sich hier und da auch ganz andere Bilder, fast wie aus einem China, das man aus den 80er- oder frühen 90er-Jahren vor Augen hat: schwere, abgenutzte Lastwagen, erkennbar seit Jahrzehnten im Dienst. Auf ihren Ladeflächen hafteten Spuren von Erde, Stein, Holz oder Baustoffen. An Kreuzungen, auf Augenhöhe mit unserem Bus, sahen wir Fahrer mit von Sonne und Wind gegerbten Gesichtern und Händen, die von harter Arbeit erzählten. Man hatte das Gefühl, dass wir von diesen Seiten ebenso beäugt wurden wie wir es vermutlich taten, gedankenversunken. Diese kurzen Momentaufnahmen erinnerten daran, dass China nicht nur aus lautloser Elektromobilität und glänzender Modernität besteht, sondern auch aus einem Leben, das von körperlicher Arbeit, Tradition und großen Entbehrungen geprägt ist – ein Land von enormer Spannweite, so schwer verständlichen Biografien. Und hier und da finden sich Punkte, an denen auch unsere Lin sich öffnet, von sich erzählt und eben diesen ja so ganz anderen Zeiten.
Zurück zum allgemeinen Strassenverkehr kann man sagen, dass nahezu drei von fünf Fahrzeugen grüne Nummernschilder trugen, was bedeutet, dass sie voll elektrisch unterwegs sind – darunter Taxis, Lieferwagen und Busse. Dieser Eindruck hatte sich wie ein roter Faden durch unsere Reise gezogen, selbst hier, wo Guilin und seine Umgebung längst nicht zu den größten Städten des Landes zählt.
Als wir am Anleger ankamen, stockten wir einen Moment. Auf dem großen Vorplatz reihten sich viele Reisebusse aneinander, und wir hatten kurz das Gefühl, dass es eng werden könnte – genau jenes Bild, das man in China oft erwartet. Unten am Fluss bestätigte sich der Eindruck zunächst: An jedem Steg lagen mehrere Fahrgastschiffe vertäut, sechs bis acht pro Abschnitt, und eine große Zahl an Reisenden bewegte sich Richtung Sicherheitskontrolle. Doch wie so oft auf dieser Reise löste sich alles rasch in Wohlgefallen auf. Wir wurden zügig weitergeleitet und erreichten ein Schiff, auf dem für jeden von uns ein fester Sitzplatz vorbereitet war – große, traditionell geschnitzte Holzstühle mit roten Sitzkissen an schweren Holztischen. Auf jedem Tisch stand bereits eine Kanne grüner Tee bereit und gab dem Ganzen einen ruhigen, willkommenen Auftakt.
Während der Fahrt wurden wir von der für unser Schiff zuständigen Verantwortlichen und ihren Mitarbeiterinnen betreut. Wir tranken Tee, aßen Fisch-Snacks und verschiedene traditionelle Gebäckstücke, die Lin für uns geordert hatte. Zwischendurch konnte man an Deck gehen, um die Landschaft zu genießen: die berühmten Karstberge, die sich scheinbar endlos am Fluss entlangzogen. Und natürlich entstand auch jenes Foto, das alle wollten – die Ansicht der Bergformation, die den Geldschein ziert.
In Yangshuo angekommen erlebten wir einen Wechsel, der deutlicher kaum hätte sein können. Nach Tagen im Grau legte unser Schiff an – und plötzlich war da blauer Himmel. Ein Himmel, der nicht nur endlich einmal Farbe brachte, sondern Wärme freisetzte, die wir mittlerweile mehr als verdient hatten. Sobald wir an Land gingen, änderte sich auch die Luft. Noch bevor wir wussten, wohin wir genau laufen würden, lag ein fruchtiger Geruch in der Nase, warm, süß, fast tropisch. Eine Allee aus Ständen erwartete uns, Südfrüchte, wohin man sah. Grün eingewachsene Verkaufsplätze, Mangos, Papayas, frisch gepresste Obstsäfte. Wir mussten nicht lange überlegen und kauften Säfte und Obst zum Sofortverzehr. Es wirkte, als würden wir direkt aus dem Schiff in eine neue Wirklichkeit steigen. Wir atmeten hier anders, vielleicht sogar tiefer. War das denn tatsächlich noch die gleiche Reise? Es fühlte sich an wie ein völlig neuer Abschnitt. China zeigte wieder ein anderes Gesicht – ein Gesicht, in dem nun Wärme und Düfte die Hauptrolle spielten. Wir bummelten durch die Stadt, sahen viele uns bis dahin völlig unbekannte Früchte - Lin probierte für uns, wir blieben manchmal vorsichtig skeptisch. Es gab viele kleine Gelegenheiten, das Gesamtkoffergewicht zu erhöhen - das wurde genutzt. Und es gab sie auch hier faszinierend zu beobachten: auffällig ausgelassene chinesische Reisegruppen lebensfroh und energievoll unterwegs. Wir fotografierten den Mondberg als weiteres Highlight und ahnten da noch nicht, dass ein eigentlich unscheinbarer Programmpunkt noch zum tatsächlichen Höhepunkt wird: unser Aufenthalt im Snow Lion River Resort.
Die Art der Unterkunft, in der wir hier wohnen würden, erinnerte an Formen von Agritourismus, wie man sie auch in Europa kennt: frühere landwirtschaftliche Häuser, die nun Gäste empfangen und ihnen Nähe zu einer Lebensweise ermöglichen, die sonst leicht übersehen wird. Einfache Architektur, der fehlende Fahrstuhl wird durch hilfsbereites Personal für unsre Koffer ersetzt, liebevoll zusammengelebte Zimmer, wenngleich ausgesprochen sauber mit Blick in den Garten und einen blauen Pool, der irgendwie gefühlt nicht her her passt, aber vielleicht auch eine Art Luxus bedeuten soll für unsere nette, familiengeführte Herberge.
Nach Ankunft und einer kurzen Verschnaufpause trafen wir uns wieder vor dem Hotel, und die Wirtin führte uns durch das Dorf, in dem das Snow Lion Riverside Resort liegt. Der Ort wirkte klein, ländlich, ruhig. Wir liefen aufmerksam zwischen den Dorfhäusern, und hier und da war zu erkennen, dass sich an diesem Flusslauf kleine Gästehäuser und einfache Hotels entwickelten. Es deutete sich eine Art neuer Tourismus im ländlichen Raum an. Gemeinsam mit Lin und der Wirtin gingen wir zu einem Haus. Die Familie, die dort lebte, hatte auch stetig den beruflichen Alltag der wachsenden Tourismussituation weg vom Landbau neu angepasst. Für uns war dieser Tag ein spannender Perspektivwechsel und erneut ein Beispiel dafür, wie vielfältig China ist und wie unterschiedlich die Wege sein können, die Menschen hier gehen – mit all den schwierig zu fassenden Facetten.
Wir standen zunächst draußen vor dem Haus, dessen Fassade kaum erahnen ließ, dass sich dahinter ein Wohnraum befand. Zwischen Motorrollern, einer alten Mauer und roten Laternen begegneten uns zuerst zwei Kinder in Schuluniform, die das rote Halstuch der Jungpioniere trugen. Sie liefen selbstverständlich über den Hof, während wir noch versuchten, die Umgebung in uns aufzunehmen. Für sie war es ein alltägliches „Ding“, für uns jedoch ein erster Einblick in ein Leben, das von anderen Selbstverständlichkeiten geprägt ist als unsere eigenen. Kurz darauf wurden wir eingeladen einzutreten und überquerten eine hohe Schwelle, die uns in einen Raum führte, der das Zentrum des häuslichen Lebens zu sein schien. Das Wohnzimmer war zugleich Arbeitsbereich und Treffpunkt der Familie. Ein Sofa, einige Sessel, ein schlichter Tisch, Stühle und Abstellflächen standen ohne erkennbare Abstimmung nebeneinander und erfüllten doch ihren Zweck. Auf einem Schreibtisch lagen Schulunterlagen der Kinder: Englisch-Hausaufgaben, Mathematikaufgabenblätter, ein Wörterbuch, ein blaues Federmäppchen und eine zurückgegebene Leistungskontrolle. Hier fand Lernen sichtbar anders statt – nicht in abstrahierten Vorstellungen von Bildung, sondern mitten im familiären Alltag „ohne Türen“. An der Wand hing eine große Karte Chinas, und als unser Blick weiter durch den Raum wanderte, fiel uns ein Porträt von Mao Zedong auf, das über dem Durchgang zum nächsten Zimmer angebracht war. Es war unübersehbar und wirkte wie ein stiller Wächter über dem Raum. Für viele von uns war dieser Anblick überraschend, vielleicht auch irritierend. Mao ist für einen Großteil unserer europäischen Prägung in erster Linie eine historische Figur, verbunden mit Bildern politischer Härte und widersprüchlicher Interpretationen. Doch hier hing sein Bild nicht in einem Museum oder in einem politischen Kontext, sondern im Wohnzimmer einer Familie, die uns freundlich aufgenommen hatte. Welche Bedeutung es hier trägt, blieb offen. Vielleicht war es ein Ausdruck von Loyalität oder Respekt, vielleicht von Erinnerung oder einfach ein vertrautes Element in einem lange gewohnten Lebensraum. Dass die Großmutter, die uns später begegnen sollte, die Mao-Zeit nicht aus Büchern kennt, sondern als Teil ihres eigenen Lebens, verlieh diesem Moment eine zusätzliche Tiefe.
Während wir noch im Raum saßen, zog plötzlich ein schwerer Regen auf. Innerhalb weniger Minuten verwandelte sich der Himmel in eine dichte graue Fläche, Nebel legte sich in die Senken und die Berge, die sonst die Umgebung rahmten, verschwanden vollständig. Der Regen fiel in einem Ausmaß, das jedes Gespräch übertönte. Es schüttete, als würde der Himmel in einem einzigen Guss geleert. An ein Verlassen des Hauses war nicht mehr zu denken, ohne innerhalb von Sekunden bis auf die Haut durchnässt zu sein. Der Vater der Familie entschied sich schließlich, uns mit seinem Auto zurück ins Hotel zu bringen. Doch der Weg zu seinem Wagen führte nicht durch den Hof, sondern durch die Küche des Hauses, die wir bis dahin nicht betreten hatten. So standen wir auf, verabschiedeten uns und gelangten zum ersten Mal in jenen Raum, in dem die Großmutter am Herd kochte. Sie bewegte sich sicher und ruhig, als wäre die Küche der feste Pol der Familie. Der Duft von Öl, Gemüse und Gewürzen lag in der Luft, und plötzlich spürten wir noch stärker die Nähe zu einem Alltag, der sich abseits unserer eigenen Lebenswelt entfaltet. Von dort führte der Vater uns weiter zu seinem Auto, und er fuhr uns in kleinen Gruppen durch den Regen zurück ins Hotel, während das Wasser draußen in Strömen die Wege hinabfloss.
Dieser Besuch hat uns nachdenklich gestimmt. Nicht, weil wir alles erklären könnten, was wir sahen, sondern gerade, weil wir es nicht unbedingt müssen. Über China existieren viele Bilder, entstanden aus historischen Perspektiven, politischen Analysen oder medialen Eindrücken. Doch die Realität hinter Türen, die wir sonst nicht öffnen, ist oft komplexer, leiser, widersprüchlicher – und gerade deshalb wertvoll. Vielleicht liegt die Bedeutung solcher Begegnungen nicht darin, Antworten zu finden, sondern innezuhalten, zu beobachten und die eigenen Gewissheiten in Bewegung zu bringen. Reisen bedeutet manchmal, in einem Raum zu sitzen, während draußen der Regen die Berge verschluckt, und zu erkennen, dass Verstehen nicht immer mit Wissen beginnt, sondern mit Zuhören und Aushalten von offenen Fragen.
Zurück in unserem Hotel freuten wir uns über ein sehr leckeres Essen und einen guten Reisschnaps. Was für ein toller Tag!

Hangzhou und Wuzhen

Der zehnte Tag war nahezu ausschließlich ein Reisetag. Nach dem Auschecken am Morgen machten wir uns auf den Weg zum Flughafen und flogen weiter nach Hangzhou. Dort angekommen, bezogen wir unser sehr angenehmes Hotel und nutzten die verbleibende Zeit, um in einem nahegelegenen Restaurant gemeinsam zu Abend zu essen.
Im Anschluss verbrachten wir den Abend im westlichen Teil der Wasserstadt Wuzhen, die nach Einbruch der Dunkelheit in gelbes Licht getaucht war. Es war ein milder Abend, angenehm warm, und trotz vieler Besucher wirkte der Rundgang nie wirklich gedrängt. In den schmalen Gassen musste man zwar gelegentlich darauf achten, den Anschluss an die eigene Gruppe nicht zu verlieren – besonders, wenn man länger fotografierte und sich kaum von den Motiven lösen konnte – doch die Atmosphäre blieb ruhig und stimmig. Die hölzerne Architektur der Häuser, die sich entlang der Kanäle aneinanderreihte, war faszinierend anzusehen, und das Licht spiegelte sich auf dem Wasser, ohne zu überstrahlen. Alles wirkte ausgewogen: Menschen, Geräusche, Bewegung und jene Momente, in denen man einfach stehen bleiben wollte, um die Szenerie in sich aufzunehmen.
Es war ein wunderbarer Abschluss eines Tages, der vor allem dem Reisen und dem Weiterkommen gewidmet war – ein sicherlich notwendiger Tag, der aber dennoch mit einem besonderen, anhaltenden Eindruck endete.

Wuzhen und Suzhou

Der elfte Tag begann mit einem Rundgang durch den östlichen Teil der Wasserstadt Wuzhen. Die schmalen Wege entlang der Kanäle, die hölzernen Fassaden und die steinernen Brücken zeigten noch einmal ein anderes Bild dieser historischen Stadt – heller, belebter, unmittelbarer als am Vorabend. Die Mittagssonne stand bereits spürbar hoch, und wir ahnten, dass wir endgültig im Sommer angekommen waren.
Nach diesem Rundgang setzten wir unsere Reise nach Suzhou fort. Die Stadt wirkte freundlicher und bunter, als manche es erwartet hatten: keine Hochhauskulissen, sondern eher flachere Häuser, eine angenehme Architektur, die sich leicht zu Fuß erschließen ließ. Dort besuchten wir eine Flaniermeile, die sich wie ein langer belebter Streifen durch die Altstadt zog. Geschäfte, kleine Imbisse, Straßenstände, Cafés – ein Ort, an dem man essen, probieren, kaufen oder einfach nur durch die Gassen treiben konnte.
Wir gaben dort Zeit zur freien Verfügung. Manche bummelten langsam vorwärts und rückwärts über dieselbe Strecke, andere probierten lokale Snacks oder hielten Ausschau nach Souvenirs. Und einige nutzten sogar die Gelegenheit, mit einer der Rikschas zu fahren, die am Anfang und Ende der Straße bereitstanden. Auch wenn die Wege eng waren und die Fahrtstrecken eher kurz ausfielen, schien allein das Ausprobieren zu reizen – ein kleines Vergnügen, das man sich nicht entgehen lassen wollte.
Was diesen Tag besonders prägte, war das Gefühl von Wärme und südlicher Leichtigkeit. Schon seit Hangzhou hatte es sich angedeutet, doch nun waren wir sicher: Wir waren im Sommer angekommen. Die Sonne stand hoch, die Luft war mild, und vieles, was in den Tagen zuvor noch nötig gewesen war – Regenschirme, Regencapes, Silikon-Überzieher für die Schuhe – schien plötzlich überflüssig. Einige nutzten die Gelegenheit und verabschiedeten sich im Hotel sogar von ihrem zuvor völlig durchnässten Schuhwerk. Es hatte etwas Befreiendes.
Dieser Nachmittag in Suzhou fühlte sich an wie eine kleine Atempause, wie Urlaub im Urlaub: südliche Wärme, ein entspannter Spaziergang, ein wenig Leichtigkeit mitten in der Reise.

Kaiserkanal, Garten des Meisters der Fischernetze und Shanghai

Nach dem Frühstück besuchten wir den Garten des Meisters der Fischernetze in Suzhou, einen der berühmtesten klassischen Gärten Chinas, dessen Ursprünge bis ins 12. Jahrhundert zurückreichen. Zwischen kunstvollen Pavillons, geschwungenen Wegen, Wasserbecken und Felsen entstand ein lebendiges Bild: Besucher in historischen Gewändern nutzten die Anlage als Kulisse für Fotos, Kunststudentinnen und -studenten zeichneten konzentriert an Teichufern und in Pavillons.
Und dann geschah wieder einer dieser Momente, wie man sie nicht planen kann. Eine Reise besteht aus Programmpunkten, aus Wegen und Zielen, aus all dem, was organisiert werden muss – doch sie lebt von den Augenblicken, die sich einfach ereignen, unerwartet und unbeeinflussbar. So begegneten wir in einer Rotunde einem älteren Mann, der uns, als er unsere Gespräche hörte, auf Deutsch ansprach. Er erzählte, dass er in den 1980er-Jahren mehrere Jahre in Süddeutschland gelebt und gearbeitet hatte. Es war kaum zu überhören, wie gern er dort gelebt hatte: Mit spürbarer Wärme sprach er von dieser Zeit, als sei sie ein wertvoller, unverlierbarer Teil seines Lebens. Deutschland, so ließ sich aus seinen Worten herausfühlen, war für ihn mehr gewesen als ein Arbeitsplatz in einem fremden Land. Er brachte dem Land eine auffallende Achtung entgegen, bewertete es hoch, ja, man hatte den Eindruck, dass ihm die Deutschen in besonderer Weise ans Herz gewachsen waren und diese Jahre zu einem prägenden Abschnitt seines Lebens geworden waren. Gerade deshalb berührte uns, was er abschliessend sagte. Mit einer Ernsthaftigkeit, die uns sofort aufmerksam werden ließ, fragte er, warum heute so wenige Deutsche nach China kämen, warum man sich voneinander entferne. Und dann, mit einem Blick, der wirkte, als betrachte er Deutschland aus weiter Ferne und doch mit großer innerer Nähe, sagte er: Man solle gut auf Deutschland achten, es sei doch ein so kluges und besonderes Land. „Make Germany great again“ sagte der Mann. Und wir waren sprachlos.

Mittlerweile standen wir schon wieder im Nieselregen, bewaffnet mit Schirmen, während sich der Himmel grau und schwer über die Wasserwege des Kaiserkanals legte. Das Wetter schien sich der Stimmung dieser Bootsfahrt fast anzupassen: alles schon wieder kühl, ein wenig melancholisch. Die Kanalboote selbst waren gepflegt und beinahe entzückend, klassische Wasserstadtboote, wie man sie sich vorstellt. Doch die Ansichten, die sich uns entlang der Fahrt boten, wirkten eher wie die verborgene Rückseite einer Stadt – ein Blick in den Hinterhof.
Während die Boote also fast malerisch dahinglitten, zeigte sich entlang des Kanals ein ganz anderer Anblick. Viele der Häuser, die mit ihren traditionellen Dächern und hölzernen Balkonen eigentlich einen besonderen historischen Zauber ausstrahlen könnten, präsentierten eher ihre gealterte, ehrliche Seite. Abblätternder Putz, feuchte, schimmelig dunkel verfärbte Mauern. Schiefe Fundamente direkt am Wasser und improvisierte Reparaturen verliehen dem Ganzen stellenweise einen fast provisorischen Charakter. Zwischen offenen Türen und kleinen Balkonen standen Pflanzenkübel und Wassereimer, teils wie liebevolle Versuche, dem Ort ein wenig Leben einzuhauchen. Insgesamt wirkte das Bild für Gondelgäste weniger idyllisch – eher roh, ungeschönt und authentisch, vielleicht wie ein Blick hinter die Kulissen des touristischen Glanzes.
Aber eingesammelt von unserem Busfahrer ging es kurz darauf schon weiter nach Shanghai, der Metropole, die dann die letzte Station unserer so intensiven Reise werden sollte. Die Fahrt nach Shanghai fühlte sich erstaunlich kurz an, obwohl wir an diesem Morgen wieder im feinen Nieselregen in den Bus gestiegen waren. Kaum hatten wir die ländlichere Region hinter uns gelassen, rollten wir bereits über breite, gut ausgebaute Autobahnen – drei- bis vierspurig, teils sogar mehr. Wie in vielen Teilen Chinas wurden auch hier Mautabschnitte durchfahren, insgesamt war es eine ruhige, gleichmäßige Strecke.
Was uns alle überraschte: Wie früh man die gigantischen Ausläufer Shanghais zu sehen bekommt. Noch bevor man das Gefühl hat, die Stadtgrenze wirklich erreicht zu haben, tauchen am Horizont schon die ersten hohen Türme auf – und sie hören einfach nicht mehr auf. Minutenlang, fast endlos, fuhren wir an Bautürmen, Wohnblöcken und Hochhäusern vorbei, die dichter und dichter wurden. Es war, als würde die Stadt langsam aus dem Boden wachsen und wir fahren ins Zentrum des Ganzen.
Und gleichzeitig bot sich ein völlig irritierender, fast surrealer Kontrast: die Autobahn. Der gesamte Mittelstreifen und auch die Seitenränder waren mit präzise gepflegten Pflanzschalen und Blumenbeeten gestaltet – Blumenkästen, akkurat geschnittene Sträucher und sogar blühende Pflanzen, die aussahen, als wären sie gerade eben erst frisch gesetzt worden. Keine Spur von Verwelkung, kein überwucherter Ast, keine braunen Blätter. Wir rätselten im Bus, wie und wann diese Flächen gepflegt werden – und ob vielleicht eine unsichtbare Gärtner-Brigade rund um die Uhr im Einsatz ist. Es wirkte so perfekt, dass es fast nicht real erschien. Zwischen den Hochhäusern sollte dieses Grün offenbar ganz bewusst kleine Oasen schaffen, damit die Stadt trotz ihrer Gigantomanie nicht kalt wirkt. Und das tat sie auch nicht eine Minute.
Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen. Der Asphalt war zwar noch feucht, aber die Luft mild – Shanghai präsentierte sich sofort mit einem wärmeren, südlichen Klima. Und diese Mischung aus imposanter Skyline, gepflegtem Grün und klarer, sauberer Straßenführung machte schon nach wenigen Minuten einen enormen Eindruck.
Unser erster Programmpunkt in Shanghai war eine von vielen Seidenmanufakturen, die Lin für uns ausgewählt hatte – eine Produktionsstätte mit angeschlossenem kleinen Museum. Auch hier aus dem Bus gestiegen setzte sich das gepflegte Stadtbild fort: auffällig schön angelegte Grünflächen, saubere Wege, alles wirkte sorgfältig gestaltet. Drinnen erfuhren wir so einiges über die Seidenraupe, die Verarbeitung und die Tradition der Seidenspinnerei. Ein schöner Einstieg in diese gewaltige Metropole, bevor wir richtig in die Stadt eintauchten. Es ging weiter zu unserem Abendessen. Da erneut in die uns mittlerweile schon so geläufige, hier und da immer wieder zu erlebende chinesische Restaurant-Hektik: ein kleines, dicht gefülltes Lokal, laut, gedrängt, wuselig – ein Ort, der nach einem so intensiven Tag fast schon surreal wirkte. Wir aßen, ohne viel zu reden, trafen uns danach wieder vor der Tür und waren schlicht froh, satt zu sein und wieder Luft zu bekommen.
Erst draußen bemerkten wir, wo wir eigentlich gelandet waren: in einer kleinen Seitenstraße der berühmten Nanjing Road. Und plötzlich war sie wieder da – die Energie. Vor uns öffnete sich diese überwältigende, grell beleuchtete, vibrierende Einkaufsstraße, in der jeder von uns noch einmal auf eigene Weise eintauchen konnte. Shanghai präsentierte sich hier in seiner ganzen Wucht: Geschäfte, die scheinbar alles anbieten – von Uhren über Tablets bis hin zu Softwarepaketen und E-Autos unter einem Dach –, Menschenströme, Lichter, Eindrücke, ein Tempo, das kaum zu greifen ist.
Und egal, wie müde wir an diesem Abend waren: Shanghai ließ niemanden kalt. Es vermittelte das Gefühl dieses Quantensprungs eines ganzen Landes – oder besser gesagt: jenes Megarausches, in den China sich in den letzten Jahren selbst katapultiert hat.

Shanghai

Ein weiterer Tag in Shanghai – ein neuer Tag stand vor uns. Die Sonne schien, warmes, angenehmes Wetter erwartete uns: ideal, um die Stadt wirklich kennenzulernen. Unsere Stadtrundfahrt begann ausgesprochen schön, und erneut begegneten wir diesem Wechselspiel von Kontrasten, der uns auf der gesamten Reise begleitet hatte.
Auf dem Weg in die Altstadt zeigte sich Shanghai plötzlich von einer ganz alltäglichen, fast intimen Seite. An unzähligen Wohnhäusern ragten die typischen Wäschestangen aus den Fenstern – Metallkonstruktionen, die sich nach außen klappen oder ausziehen lassen und auf denen die Bewohner ihre Kleidung trocknen. Ein einfaches, praktisches System, das man in vielen Metropolen findet, aber hier in Shanghai in beeindruckender Dichte sichtbar wird. Und so fuhren wir an Reihen von bunt flatternden Kleidungsstücken vorbei – ein Stück gelebter Normalität, das die riesige Stadt überraschend nahbar und authentisch wirken ließ.
Und nachdem unser Bus anhielt und Lin ihre Stadtführung zu Fuß fortsetzen wollte, setzte sich diese gefühlte Normalität ebenfalls fort. Gleich neben unserem Ausstieg befand sich einer jener Plätze, die uns während der Reise schon mehrfach begegnet waren – eine Art „Spielplatz für Erwachsene“, wie wir ihn scherzhaft nannten. Auf den ersten Blick könnte man meinen, es handele sich um einen Kinderspielplatz. Doch in Wirklichkeit sind es öffentliche Bewegungs- und Trainingsareale: einfache Geräte für Dehn- und Streckübungen, kleine Kraftstationen, Balancierstrecken, Reflexzonenplatten aus Kieselsteinen. Menschen, die Tai-Chi machten, andere, die sich aufwärmten oder einfach nur in Ruhe ihre Beweglichkeit trainierten – alles im Freien, offen und ohne große Ausstattung.
Von dort aus ging es ganz weich, fast nahtlos, zu Fuß weiter – hinein in die ersten Altstadtbereiche. Zwischen den hohen Gebäuden öffneten sich plötzlich kleine, gewachsene Läden: Kioske, Gemüsestände, winzige Verkaufsräume mit offenen Fronten. Dinge des Alltags, dicht nebeneinander, manchmal improvisiert, manchmal erstaunlich liebevoll geführt.
Zwischen den modernen E-Fahrzeugen, darunter auch Luxusmarken aus Europa und Deutschland, fuhren immer wieder kleine Motorräder und Mopeds vorbei – beladen mit Kartons, Gemüse, Werkzeug, Müllsäcken oder irgendwelchen spontanen Konstruktionen auf dem Gepäckträger. Ein ständiges Kommen und Gehen, Geräusche, Bewegungen, kurze Blicke, kleine Szenen, die einfach da waren und sich in den Gassen weiter verteilten. Und dann führte uns unser Weg weiter. Das Stadtbild, das uns zuvor begleitet hatte – groß, monumental, geordnet, imposant – blieb hinter uns zurück. Vor uns öffnete sich die sogenannte Altstadt von Shanghai. Hier dominierten die typischen Elemente klassisch chinesischer Architektur: dunkles Holz, tiefrote Akzente, geschwungene Dachlinien, goldene Verzierungen und offene Fassaden. Viele der Häuser sind nur halb geschlossen, eher Übergänge als Räume, die einen ohne Schwelle weiterleiten. Man bewegt sich nicht von Eingang zu Eingang, sondern durch ein zusammenhängendes Gefüge aus Wegen, offenen Strukturen, kleinen Plätzen und Höfen. Dazu kam eine durchgehende musikalische Untermalung, die den ganzen Bereich begleitete – wie in einem riesigen Pariser Kaufhaus, nur eben im Freien, unter sonnigem Himmel.
Zwischen diesen Wegen liegt auch der bekannte Yuyuan-Garten, den wir mit Lin gemeinsam besichtigten. Erneut machten wir unzählige Fotos, liefen durch kleine Pfade, über Brücken, entlang von Teichen. Ein eigener, abgeschlossener Kosmos, der sich dennoch nahtlos an das anschmiegte, was draußen weiterging. Neben dem Spaziergang durch den Garten blieb selbstverständlich Zeit zum Bummeln. Jeder konnte sich ein wenig treiben lassen, durch kleine Läden stöbern und etwas kaufen – ganz nach eigenem Gefühl, ohne Vorgaben, einfach so, wie es offensichtlich Shanghai mit jedem plante, der durch diese Altstadt läuft.
Unser Weg führte uns später weiter in jenes Viertel, das man am treffendsten als die asiatische Version Manhattans beschreiben könnte – das Geschäfts- und Hochhausareal von Lujiazui. Plötzlich standen wir zwischen diesen enormen Wolkenkratzern, Banken, Firmenzentralen und Glasfassaden, die sich in den Himmel schrauben. Im Unterschied zu Manhattan wirkte dieses Viertel jedoch nicht gedrängt. Zwischen den Türmen blieb Raum – breite Gehwege, Grünflächen und diese typisch chinesische klare Struktur, in der sich der Verkehr ordnet, ohne dass man ihn überall spürt. Da verliefen Fahrrad- und Rollerwege, die in Shanghai so selbstverständlich wie in ganz China zum Stadtbild gehören. Die großen Gebäude ragten dennoch mächtig über uns: der Shanghai Tower mit seinen 632 Metern, daneben der Jin Mao Tower und das World Financial Center. Ein Ensemble, das nicht nur Höhe, sondern auch Ambition ausstrahlt – ein Raum, in dem Architektur, Technik und vor allem dieser enorme chinesische wirtschaftliche Ehrgeiz sichtbar wurde, ohne dass die Stadt dabei an Persönlichkeit oder Wärme verliert.
Ein weiterer Programmpunkt in diesem Stadtviertel war natürlich, Shanghai auch einmal von oben zu sehen. Deshalb führte uns der Weg auf den Jinmao-Turm, eines der markantesten Gebäude im Finanzdistrikt Lujiazui. Schon die Fahrt nach oben ist beeindruckend, aber wirklich spektakulär wird es erst auf der Aussichtsebene: Von dort hat man einen freien, fast schwebenden Blick auf das benachbarte Shanghai World Financial Center, das wegen seiner ikonischen Form überall nur „Flaschenöffner“ genannt wird. Zudem öffnet sich ein grandioses Panorama über die unendlichen Reihen der Stadt – ein Meer aus Wolkenkratzern, Wohnblöcken und Straßenachsen, das sich bis zum Horizont zieht. Der Jinmao-Turm bietet nicht nur außen beeindruckende Ausblicke, sondern auch innen ein besonderes Erlebnis: In der Mitte des Turms befindet sich ein riesiger, nach unten offener Atriumschacht. Wenn man von oben hinunterschaut, sieht man die spiralförmig nach unten laufenden Galerien und Ebenen des Hotels – ein scheinbar endloser Blick, der in seiner Tiefe fast schwindelerregend wirkt. Dieses Innere des Turms ist eines der architektonischen Highlights und gehört für viele Besucher zum absoluten Pflichtmoment.
Oben herrschte eine ausgesprochen lebhafte Stimmung. Wie an vielen Sehenswürdigkeiten in China waren dort zahlreiche chinesische Reisegruppen unterwegs – voller Energie, fröhlich, laut, begeistert, und immer mit dem Smartphone in Händen. Diese Gruppen, oft auch bestehend aus Damen mittleren und höheren Alters, verbreiten eine ansteckend gute Laune und genießen solche Ausflüge sichtbar in vollen Zügen. Besonders auffällig war ein großer, leuchtend roter Wunschbaum, der an einer Stelle der Aussichtsplattform stand. Seine Äste waren dicht behängt mit roten Bändern und kleinen Kärtchen, auf denen die Besucher ihre Wünsche notieren. Die Tradition geht darauf zurück, dass Rot in China für Glück, Wohlstand und Schutz steht. Viele Menschen kaufen dort kleine Wunschzettel, schreiben Hoffnungen und Segenswünsche für Gesundheit, Erfolg oder familiäres Glück darauf und hängen sie an die Zweige, damit sich die Wünsche symbolisch „festhalten“ und erfüllen. Dieser Baum, übervoll behängt und intensiv rot leuchtend, war ein richtiger Blickfang – ein kleines Meer aus Hoffnung und Glücksversprechen. Kein Wunder also, dass sich viele der Besucher nach dem Aufhängen ihrer Wunschkarten voller Freude davor fotografieren ließen.
Unsere wunderbare Lin wusste gegen Ende unserer Reise bereits ganz genau, welche Art von Restaurants wir bevorzugen. Und so fand sie für diesen Tag in Shanghai einen glanzvollen, pompösen und äußerst stimmungsvollen Abschluss. Wir konnten ein ausgesprochen schönes und rundum zufriedenstellendes Abendessen genießen – ein perfekter Abschluss eines perfekten Tages.

An dieser Stelle bietet es sich jedoch an, einmal offen anzusprechen, was viele europäische Reisende – und insbesondere wir guten Mitteldeutschen – unausgesprochen ständig im Hinterkopf haben:
Die Wahl des Restaurants hängt in China nicht nur vom Essen ab, sondern ganz entschieden auch von den sanitären Anlagen.
Das mag banal klingen, aber jeder meiner Gäste, der diesen Bericht liest, weiß vermutlich ganz genau, was gemeint ist. Während unserer Reise schwang dieses Thema bei jedem Restaurantbesuch oder Sehenswürdigkeitsbesuch automatisch mit. Schon nach wenigen Tagen waren wir regelrecht geschult darin, beim Betreten der Damentoiletten sofort nach den entscheidenden Piktogrammen zu suchen. Denn diese verraten, mit welcher Art Toilette man es zu tun hat:
• das Symbol für die Toilet Bowl – also die klassische Sitztoilette,
• und das Symbol für die Squatting Pan – die traditionelle Hocktoilette.
Mehr muss man dazu eigentlich nicht sagen. Die Enttäuschung war jedes Mal deutlich, wenn wir zwar den Bereich gefunden hatten, aber kein Piktogramm für eine Sitztoilette auftauchte. So wurde dieser kleine tägliche „Toiletten-Check“ zu einer Art Running Gag der gesamten Reise – eine jener charmanten Anekdoten, die uns wohl noch lange in Erinnerung bleiben werden.

Wenn man so ein alter Hase ist – und ich denke, ich habe Lin zu Beginn des Berichtes bereits genau so beschrieben – wenn man also wirklich erfahren ist und sich nach einigen Tagen perfekt mit der Gruppe eingespielt hat, dann weiß man ganz genau, wie man noch einen „draufsetzen“ kann. Und so fuhr Lin mit uns zum Abschluss dieses wunderbaren Tages natürlich nicht direkt ins Hotel, sondern machte einen letzten, ganz besonderen Abstecher: hinunter zur Uferpromenade, dem Bund. Dort standen wir in mildsommerlicher Abendluft, umgeben von einem warmen, sanften, fast dumpf vibrierenden Klang, der über dem Wasser hing. Die Temperaturen waren angenehm, die Luft weich, und vor uns breitete sich die berühmte bunte Skyline Shanghais aus – in Licht getaucht, schimmernd, pulsierend, überwältigend.
Ein letztes Mal wurden wir so richtig abgeholt, so richtig geflasht von dieser Mischung aus Farben, Höhe, Weite und Energie. Dieser Anblick fühlte sich wie ein vollkommener Schlussakkord an: der ideale Abschluss eines Tages, der längst voller Eindrücke war, und zugleich ein würdiges Finale einer Reise, die so dicht, so intensiv und so unvergesslich war.

Shanghai und nach Hause

Nach einem sehr guten Frühstück fuhren wir in unseren letzten Reisetag, zuerst zum Jade-Buddha-Tempel.
Der Tempel ist vor allem wegen seiner zwei kostbaren Buddha-Statuen aus reiner weißer Jade bekannt – aus Myanmar nach Shanghai gebracht und kunstvoll in eigenen Hallen untergebracht. Die Anlage besteht aus mehreren Innenhöfen und Tempelgebäuden, in denen Besucher Räucherstäbchen entzünden, beten oder einfach nur in Ruhe verweilen können. Lin erzählte, dass einige der Gebetshallen erst in den letzten Jahren ergänzt worden waren. Für mich wirkte genau diese Tatsache bemerkenswert: dass solche Erweiterungen nicht zufällig entstehen, sondern offensichtlich eingebettet sind in staatliche Kulturpolitik.
Und während wir durch diese Anlage liefen, die – wenn man in den Himmel schaute – von den Wolkenkratzern des großen Shanghai umrahmt war, fiel erneut dieses Zusammenspiel auf, das uns eigentlich auf der ganzen Reise begleitet hatte: Ein Milliardenvolk, das sich in einem System bewegt, das enorme Ordnungsstrukturen und Abläufe bereitstellt. Abläufe, die auf jeden Fall geschmeidig wirken, die offensichtlich funktionieren und dabei kaum stolpern. Unten, diese Ergänzungen am Tempel, passten genau in dieses Bild: Eine Mischung aus Tradition, politischer Steuerung und einer Art weicher Führung.
Und genau so sinnbildlich für dieses China, dieses staatlich gesteuerte und doch eigenartig frei wirkende China, war der nächste Haltepunkt dieses Tages. Als wir aus dem Bus stiegen und auf den Fußgängerüberweg traten, fuhren zunächst ein Lamborghini und mehrere andere Luxusfahrzeuge an uns vorbei. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite: eine der größten Starbucks-Filialen der Welt, in der viele junge Chinesen ihr Wochenende mit ausgiebigem, hochpreisigem Frühstück einläuteten. Daneben stand eine absolut nicht dezente, vielmehr auffällige Werbeeinheit von Louis Vuitton – ein großes LV-Schiff, vor dem sich Besucher der Stadt fotografieren ließen. Umgeben war das Ganze von Marken wie Tiffany’s und Bucherer. Ein faszinierender Kontrast: Luxus, Konsum und Inszenierung – und das alles in einem Land, das von der Kommunistischen Partei geführt wird.
Erneut Momente, die unendliche, auch unklare Gedanken auslösten. Dieses Nebeneinander von kommunistischem Staatsmodell und offen gezeigtem Luxus, von Führungssystem und Freiheit des Konsums – es wirkte wie ein bewusst gesetztes Bild einer neuen Generation, die man leben lässt, die man weichzeichnet, die sich in diesem Gefüge scheinbar mühelos bewegt.
Uns so passte sich auch unser letzter Programmpunkt diesem Eindruck nahtlos an: das sogenannte Französische Viertel, ein eleganter Stadtteil mit einem ganz eigenen europäischen Flair. Breite, schattige Straßen, viele Cafés, internationale Küchen, kleine Boutiquen – und tatsächlich klassische europäische Bäckereien. Für uns am letzten Tag ein Hauch von Zuhause: nach 14 Tagen chinesischer Küche, die wir geschätzt und gern erlebt hatten, war doch die Sehnsucht nach einem Schwarzbrot spürbar. In diesem Viertel flanierten die Menschen auffallend gut gekleidet, ruhig, mit einer gewissen Leichtigkeit. Es fühlte sich an wie eine kleine Stadt in der Stadt, fast europäisch hineinkopiert in dieses Riesengefüge. Beeindruckend, eindrucksvoll – und Gedanken frei setzend.
Aber europäische Bäckereien hin oder her, wir hatten eine letzte Chance auf „Runder Drehtisch in Gruppe“ und so nutzten wir diese letzte traditionelle Chance auf einheimisches Essen und einen letzten Reisschnaps. Und bevor wir die Erfahrung Transrapid zum Internationalen Flughafen Shanghai machen durften, bedankte sich die Gruppe bei Lin. Denn diese Tage waren tatsächlich unwahrscheinlich intensiv. So intensiv, dass ich sicherlich in meinem Bericht die ein oder andere Begebenheit, Begegnung vergessen habe. Selbst mir fallen immer noch andere, lustige, erzählenswerte Dinge ein. Und diese Erinnerungen kommen stückchenweise, im Nachgang. Wir haben Reisetage erlebt, die uns – trotz mancher körperlicher Schwäche hier und da – immer wieder neu gefordert und gleichzeitig immer wieder neu fasziniert haben, ganz gleich, wo wir waren. Es spielte keine Rolle, ob es geregnet hat oder ob der Tag eher glitzerte: Wir konnten unsere Kräfte jedes Mal wieder fasziniert hochfahren und genau dadurch wurde diese Reise so besonders und auch nie langwierig. Und unser Dank an Lin kam von Herzen – und wir haben ihn auf chinesische Weise ausgesprochen: mit einem dieser roten Wunschkärtchen, die an die Wunschbäume gehängt werden, damit der Wunsch seinen Weg findet. Später am Flughafen zeigte mir Lin, dass sie diese Karte separat in ihrer Handtasche verstaut hatte und auch sie sich bedankte.


Wer einmal eine Reise tut, der kann viel erzählen – doch vieles versteht man erst später, wenn die ersten Bilder sich setzen und Platz machen für das, was dahinter liegt. Man sieht ein Land nicht nur einmal mit den Augen und dann erneut mit dem Kopf, sondern immer auch mit dem Herzen. Erst im Zusammenspiel dieser drei Ebenen ordnen sich Erfahrungen neu: das Vorwissen, das man mitbringt; das, was man unterwegs wahrnimmt; und das, was sich erst nach der Rückkehr miteinander verbindet.
Vielleicht ist es genau das, was das Reisen so wertvoll macht – dass man ein Land nicht nur sieht, sondern es versteht, und manchmal sogar ein Stück weit fühlt.


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